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Die Weißtanne – der Charakterbaum des Schwarzwalds

Die Tannenfreaks vom Hochschwarzwald

Die Weißtanne ist der Charakterbaum des Schwarzwalds – allseits beliebt, aber dennoch bedroht. Hat sie noch eine Zukunft? In einem kleinen Wäldchen bei St. Märgen lässt sich der naturnahe Bergwald der Vergangenheit und der Zukunft besichtigen. Es ist das Experimentierfeld der Hochschwarzwälder Tannenfreaks

von  Patrick Kunkel , 02. Januar 2014
  

Auf dem Weg von St. Märgen zum Thurnerpass, eingekeilt in einer lang gezogenen Kurve der Landstraße, liegt ein kleines Stück Wald. Unscheinbar scheint es auf den ersten Blick, man könnte glatt daran vorbeifahren, es rechts liegen lassen auf dem Weg bergan. Sollte man aber nicht. Anhalten lohnt sich. Und ein Waldspaziergang noch viel mehr.

Pfisterwald heißt der Wald in Sichtweite der beiden Zwiebeltürme des St. Märgener Klosters. Ein struppiger Schwarzwälder Bergmischwald im Kleinformat, gerade mal einen Quadtratkilometer groß. Für die St. Märgener war er schon immer ein bisschen Kurgarten, wenn auch einer der eher unordentlichen Art, und für die meisten Außenstehenden wohl bloß eine Ansammlung von Bäumen wie so viele im Hochschwarzwald: Schön, schön grün und schön voll. Voller Bäume, voller Unterholz und voller Gestrüpp. Aber bitte: Was soll daran besonders sein?

„Der Pfisterwald war unser Abenteuerspielplatz, wo wir unsere Baumhäuser gebaut und unsere Indianerkämpfe bestritten haben – lang, lang ist es her“, erinnert sich Wolf Hockenjos, den ich am Waldparkplatz oberhalb des Pfisterwalds treffe, um mit ihm eine Runde zu Fuß durch den Pfisterwald zu drehen. Seine Kindheit hat Hockenjos ganz in der Nähe, im Forsthaus von St. Märgen verbracht, ehe er selbst die grüne Dienstjacke eines Försters überstreifte und ein Vierteljahrhundert lang das Forstamt in Villingen-Schwenningen leitete.

Heute hat der schlanke, drahtige Mann graumeliertes Haar und 73 Jahre auf dem Buckel – die man ihm aber nicht ansieht. Er ist leidenschaftlicher Langläufer, hat die Thurnerspur und den Fernskiwanderweg Schonach-Belchen mit aus der Taufe gehoben. Er fotografiert, schreibt Fachbeiträge über Forstthemen und Bücher über Wald und Bäume. Aber eine Sache treibt ihn besonders um: Die Rettung der Weißtanne. „Sie ist der Charakterbaums des Schwarzwalds“, sagt Hockenjos – und damit meint er nicht, dass sie Namensgeberin für ein Bier aus der von düsteren Fichtenäckern geprägten Gegend rund um Rothaus ist. Oder dass das klassische Schwarzwaldhaus eben nicht aus Fichten-, sondern Tannenholz erbaut wurde – weil das so robust und langlebig ist. Vor allem gilt die Weißtanne als der Baum naturnaher Bergmischwälder. Ein Wald, wie er früher den Schwarzwald dominierte, ehe der einst urwüchsige Wald zuerst durch Raubbau dezimiert wurde und schließlich vielerorts als gleichförmiger Wirtschaftswald wieder auferstand.

Der Pfisterwald dagegen strotzt vor Kraft und Leben. Etliche Wanderpfade führen hindurch. Er ist ein mehrstufiger Mischwald, ein Mehrgenerationenwald, in dem die Jungbäume von alleine und im Schutz der mächtigen älteren Exemplare heran wachsen: Buchen, Tannen und Fichten aller Altersklassen stehen hier beisammen.

Es ist ein Wald wie aus dem Bilderbuch, durch den Wolf Hockenjos nun voranstapft. „Man nennt das Plenter- oder Femelwald, so wurde der Bauernwald früher bewirtschaftet“, erklärt Hockenjos: „Im Plenterwald werden immer nur einzelne schlagreife Bäume entnommen, es gibt keine Kahlschläge. So wachsen von unten Tannen und Buchen nach und man muss sich nicht um Pflanzungen kümmern. Das passiert im Plenterwald automatisch.“ Wir bleiben vor einer Tafel stehen, auf der praktischerweise genau das noch einmal erklärt wird. Im ganzen Wald stehen solche Tafeln, auf denen Besucher unterwegs nachlesen können, was diesen Wald so besonders macht.

Eine gute Stunde wandern wir so – die Bäume rauschen, ich lausche und Hockenjos erklärt, was den Wald im Innersten zusammenhält. Er weiß wirklich alles, ja alles Wissenswerte über diesen Baum zu erklären. „Hier im Pfisterwald wurde der Grundstein gelegt für mein Faible – und die Liebe zur Weißtanne habe ich wohl von meinem Vater geerbt“, sagt er: „Er war ein Tannenfreak und hat hier im Pfisterwald seinen Exerzierplatz gehabt, wo er seine waldbaulichen Experimente gemacht hat.“ Der Vater. Das war Fritz Hockenjos, lange Jahre Leiter des Forstamtes in St. Märgen, ebenfalls Buchautor und Fotograf, vor allem aber ein rebellischer Schwarzwälder Starrkopf wenn es um den Erhalt der Landschaft und Wälder des Hochschwarzwaldes ging.

Als die Wutachschlucht in den 50er-Jahren aufgestaut werden sollte, organisierte er die vermutlich erste bundesdeutsche Bürgerinititiative, die „Arbeitsgemeinschaft Heimatschutz Schwarzwald“. Und ohne den alten Hockenjos gäbe es heute vermutlich eine tolle Autobahn zwischen St. Peter und St. Märgen. Der alte Förster ließ 1955 den Bannwald Conventwald am Flaunser oberhalb des Glottertals als Stolperstein für die damals geplante Schwarzwaldautobahn zwischen Freiburg und Donaueschingen ausweisen. Und auch der heute so schön verwunschene Bannwald Zweribach geht auf sein Konto.

„Der Weißtanne“, sagt sein Sohn Wolf, „war er verfallen.“ Kein Wunder, dass er den den Pfisterwald so liebte, mit seinem ungewöhnlich hohen Tannenanteil von etwa 35 Prozent. Der Pfisterwald ist aber nicht nur für Hockenjos, sondern auch für Förster aus aller Welt ein Paradebeispiel dafür, wie ein Wald zugleich schön sein kann und ökologisch wie ökonomisch wertvoll. „Unzählige Exkursionen aus der ganzen Welt haben St. Märgen schon besucht“, sagt er: „Hier im Weißtannenoptimum des Schwarzwalds tanken die Fachleute auf und sagen: So sollte es eigentlich sein.“

Vor allem nachdem in den vergangenen 25 Jahren gleich drei Jahrhundertorkane in den Wäldern gewütet hatten und quadratkilometerweise Kahlflächen hinterließen, haben sich viele Forstexperten auf die Vorzüge solch naturnaher Mischwälder besonnen: „Solch ein Wald ist widerstandskräftiger. Nicht nur gegen Stürme sondern etwa auch gegen Schädlingsbefall wie den Borkenäfer“, sagt Wolf Hockenjos. Und auf lange Sicht wirft er sogar höhere Erträge ab und liefert eine bessere Holzqualität, als eine auf bloße Holzproduktion getrimmte Baumplantage, die jahrzehntelang ein Ideal der Forstwirtschaft waren. „Das Waldbild im Schwarzwald wird längst vom Allerweltsbaum Fichte geprägt, aus manchen Teilen sich die Tanne sogar schon ganz verabschiedet“, sagt Hockenjos.

Hockenjos, inzwischen selbst pensioniert, reist heute durch ganz Europa, wo er Vorträge über naturnahe Forstwirtschaft und vor allem über die Weißtanne hält. Er hat unzählige Aufsätze und 2008 ein ganzes Buch namens „Tannenbäume“ geschrieben – leidenschaftlich, aber zugleich faktenreich und anschaulich. „Wo er die Schwarzwaldlandschaft bedroht sieht, greift er zu Kamera und Feder“, heißt es auf dem Klappentext. Und die Tanne ist bedroht. „Dabei ist der Schwarzwald eigentlich Tannengebiet. Bundesweit betrachtet kommen die meisten Tannen von hier.“

Wir bleiben vor einer besonders hohen und dicken Tanne stehen: „Die höchsten Tannen hier dürften so um die 47 Meter erreichen“, sagt Hockenjos: „Ganz genau weiß das mein Försterkollege hier vor Ort.“ Er zeigt nach oben: Die Weißtanne vor uns hat eine struppige Krone, die wie eine Kuppel geformt ist. Die Fichtenkronen daneben sind eher spitz. Deren Rinde ist rötlich braun, die der Weißtanne daneben – na, klar: weiß! „Den deutlichsten Unterschied zwischen Weißtanne und Fichte bieten die Nadeln“, sagt Hockenjos und pflückt ein paar Tannennadeln von einem Jungbaum: „Die Tannennadel ist weicher, sie hat an der Unterseite weiße Wachsstreifen. Der Fichte fehlt dieser Wachsstreifen.“

Und die Zapfen, das weiß sogar ich! Mir hat das mal vor ein paar Jahren der Grafiker Roland Jenne aus Kirchzarten erklärt, jener Mann, der in den siebziger Jahren das Etikett der Tannenzäpfleflaschen entworfen hat. Darauf sind Fichtenzapfen zu sehen, denn die hängen nach unten. Tannenzapfen stehen aufrecht und fallen auch nicht als ganzes vom Baum, sondern zerbröseln im Wind. „Natürlich war mir klar, dass das keine Tannenzapfen sind. Aber stellen Sie sich mal vor“, hatte Jenne damals gesagt: „Ein blondbezopftes Mädchen auf dem Etikett, eingerahmt von echten, aber eben steil aufgerichteten Zapfen. Das geht gar nicht.“ Eigentlich müsste das Tannenzäpfle Fichtenzäpfle heißen. Heißt es aber nicht. Und warum? Eben, die Tanne macht den Schwarzwald, nicht die Fichte!

Noch wichtiger sind die Unterschiede zwischen Tanne und Fichte, die man nicht sofort sehen kann: Die Fichte sei deshalb so beliebt, weil sie in der Jugend rascher wächst, weniger vom Rehwild verbissen wird und schneller Sägeholz liefert, sagt Hockenjos, als wir weiterlaufen: „Sie ist halt der Brotbaum der Waldbauern.“ Außerdem sei sie resistenter gegen Frost – ein Vorteil, der allerdings in einem gesunden Mischwald weniger zählt, denn dort bieten die anderen Bäume Schutz. „Man weiß, dass die Bergmischwälder mit das stabilste Ökosystem überhaupt darstellen, angesichts des Klimawandels haben sie eine sehr viel bessere Überlebenschance.“

Inzwischen brennt die Sonne vom Himmel, es ist ein heißer Julitag, aber die mächtigen, alten Bäume bilden ein schattiges Dach. Darunter wuchern junge Tannen und schlanke Buchen. „Mit Trockenheit kommt die Fichte gar nicht gut klar. Sie wird dann anfälliger für Borkenkäfer“, sagt Hockenjos, „eigentlich sind sich alle Experten einig, dass Fichten dem wärmeren und trockeneren Klima in Deutschland nicht mehr lange standhalten werden.“ Anders die Tanne: „Sie wurzelt tiefer als die Fichte und holt von weit unten die Nährstoffe nach oben. Sie nutzt den Boden besser aus und ist damit vor Sturm besser geschützt.“

Einst galt die Tanne als „Mimose“, sagt Hockenjos: „Doch das bezieht sich eigentlich nur auf ihre Empfindlichkeit gegenüber Schwefelsäure. Sie litt sehr unter dem sauren Regen. Doch seit die Schwefelimmissionen stark zurückgefahren worden sind, hat die Tanne ihre ursprüngliche Vitalität wieder erlangt. In den Zeiten des Waldsterbens galt sie bereits als eine verlorene Baumart.“ Also nicht mehr verloren – nur noch allzu oft vergessen . . . Es bräuchte nur mehr Pfisterwälder im Schwarzwald? „Das wäre was!“, sagt Hockenjos, lacht verschmitzt und stapft weiter durch den Indianerwald seiner Kindheit.

Gut zu wissen

Literatur

Wolf Hockenjos: „Tannenbäume: Eine Zukunft für Abies alba“, 232 Seiten, 1. Auflage 2008, DRW-Verlag Weinbrenner, Leinfelden Echterdingen, ISBN: 978-3871817236, 29,90 Euro

Fritz Hockenjos: „St. Märgener Welt“, 100 Seiten, 1. Auflage 1985, Schillinger Verlag Freiburg, ISBN: 389155026X

Über den Autor

Patrick Kunkel ist Reisejournalist aus Freiburg im Breisgau. Am liebsten erkundet er die Welt mit dem Fahrrad oder mit Wanderschuhen an den Füßen. Er lebt und arbeitet derzeit in Bilbao, Nordspanien und reist von dort regelmäßig in seine Lieblingsregion – den Schwarzwald. Folgen Sie Patrick auf Google+

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